Volker Blumenthaler
»Schmetterlingstraum und Vogelschrei«

Zu Aspekten zeitgenössischer taiwanesischer Musik


"Schmetterlingstraum", chinesisch Wu-Hua, nennt der taiwanesische Komponist Tzeng Shing-Kwei eine Komposition für zwölf Instrumente aus dem Jahr 1981. Dem Werk liegt als metaphorische Idee eine Passage aus einem philosophischen Traktat des Taoisten Chuang-Tse zugrunde. Der Taoist Chuang-Tse ist Zeitgenosse von Lao-Tse und gilt unter den Taoisten als der dichterisch Stärkste. Die Passage entstammen dem "wahren Buch vom südlichen Blütenland" und lautet:

Einmal träumte Dschuang-Dschou, er sei ein Schmetterling. Ein flatternder Schmetterling voller Lebensfreude, der nichts von Dschuang-Dschou wußte. Plötzlich wachte er auf: er war wirklich und wahrhaftige Dschuang-Dschou. Nun, ich weiß nicht, ob Dschuang-Dschou geträumt hat, er sei ein Schmetterling, oder ob der Schmetterling träumte er sei Dschuang-Dschou. Sicherlich gibt es einen Unterschied zwischen Dschuang-Dschou und dem Schmetterling. Dies ist der Weg, auf dem ein Ding sich in ein anderes verkehren kann.

Dieser Text umreißt symbolhaft die Situation der heutigen Chinesen, insbesondere der Taiwanesen, der auf Taiwan lebenden Chinesen: Die Ambivalenz der historischen Identität, die Brüchigkeit althergebrachter Wertvorstellungen in einer gesellschaftlichen Situation, die in allem von den geistigen und materiellen Umbrüchen des ausgehenden 20. Jahrhunderts geprägt ist.

Der Traum des Schmetterlings, der Traum vom alten China mit seiner Vergangenheit und seinen reichen kulturellen Schätzen beschäftigt immer noch einen Teil des Bewußtseins heutiger chinesischer Künstler. Aber diesem historisch rückwärtsgewandten Kulturbegriff steht seit Anfang der siebziger Jahre eine Tendenz innerhalb der taiwanesischen Musik entgegen, an der sich in zunehmendem Maße eine Öffnung zu ästhetischen Modellen ablesen läßt, die für die chinesische Kultur neu oder andersartig sind. Das hängt direkt zusammen mit der allmählichen Rückkehr von Komponisten, die im Ausland studiert haben Mit der Arbeit dieser Komponisten im eigenen Land verbindet sich eine aufkeimende Diskussion über den Fortgang chinesischer Musik. Zu nennen sind hier für die Generation der Fünfzigjährigen Ma Shui-Long und Lu Yen, für die Generation der Vierzigjährigen Pan Huang-Long und Tzeng Shing-Kwei und für die Generation der Dreißigjährigen Wu Ting-Lien und die Komponistin Chang Hwei-Lee (1).
Vor allem die jüngeren Künstler haben erkannt, was der in den USA lebende Komponist Chou Wen-Chou, der vielleicht eine Art Mentorenrolle einnimmt, 1989 während eines Festivals für Zeitgenössische Taiwanesische Musik in Taipei auf drastische Weise aussprach, daß die alte traditionelle chinesische Musik in ihre Endphase im 19. Jahrhundert eindeutig dekadente, entwicklungsfeindliche Züge trüge, und daß nun die große Chance eben in der vertieften Auseinandersetzung mit allen kulturellen Modellen bestehe. Ein vergleichbarer Prozeß läuft seit geraumer Zeit im Bereich der Lyrik: allmähliche Loslösung von einer erstarrten Tradition, Erschließung neuer Ausdrucksmittel, Entdeckung neuer Genres gepaart mit wachsender mit Experimentierfreudigkeit mit sprachlichen Mitteln. Chou knüpft an seine Prognose die Erwartung, daß für die chinesische Musik in der Zukunft wirklich neue und tragende Konzeptionen entstehen könnten (2).

"Wu-Hua" - Schmetterlingstraum - nennt
Tzeng Shing-Kwei seine Komposition von 1981. Tzeng ist 1946 in Ping-Tung auf Taiwan geboren. Er studierte 1977-1981 in Freiburg bei Klaus Huber und Brian Ferneyhough Komposition. Seit 1981 nahm er an verschiedenen internationalen Festivals teil und errang auch einige Preise. Die Idee der getauschten Identität ohne Verlust des Spezifischen schlägt sich direkt als Formgedanke im Stück nieder. Es besteht aus zwei Hälften zu je sechs Formteilen, die um einen siebten, als Achse gedachten Teil schwingen, sich nur scheinbar spiegelbildlich ergänzen.
Jedem der Formteile liegt eine eigene klangliche Aura zugrunde Sie verleiht dem filigranen, polyphonen Gewebe einen harmonischen Halt und darüber hinaus auch einen übergreifenden ästhetischen Gehalt.
Die Auswahl der Harmonien wurde auf der Grundlage zweier Prinzipien getroffen: Erstens entspricht sie der historischen Entwicklung der Musik und überspannt die Zeit von der "Monodie" bis zu den Formen unserer gegenwärtigen Zeit. Zum zweiten bilden die Intervalle (der Akkord) eine Symmetrie um eine Achse, die den Ton a1 darstellt, manchmal einen Viertelton höher oder tiefer (aus dem Werkkommentar des Komponisten).
Die Klangdisposition des Stücks sieht nach Tzeng dadurch folgendermaßen aus:
im Stil der Monodie: ein Zentralton
im Stil des Organums: ein Quintklang
im Barockstil: ein übermäßiger Dreiklang
im klassischen und romantischen Stil: ein verminderter Septakkord
im Stil der Impressionisten: eine harmonisch zerlegte Ganztonskala
im atonalen Stil (wie bei der Wiener Schule): ein Akkord, bestehend aus gespiegelten Groß-Sext- und Quartprogressionen mit einem Tritonus als Rahmenintervall
und (wie bei Skrjabin): der symmetrisch gespiegelte, mystische Akkord, der alle zwölf Töne umfaßt.

Hinter der Ambitusgestaltung verbirgt sich eine Anspielung auf die alte europäische Tradition der musikalischen Anagramm- und Rätseltechnik. Ausgehend vom Ton a erweitert sich der Klangraum auf h als höchsten und c als tiefsten Ton im zentralen siebten Abschnitt und verjüngt sich zum b am Ende des Stücks. Der Ambitusverlauf enthüllt eine B-A-C-H-Klangraute.
Zwölf Instrumente (Flöte, Oboe, Es- und A-Klarinette, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Harfe, Violine, Viola und Cello) spielen zu Beginn zwölf Rhythmusschichten. Die Zahlen sieben und zwölf verweisen mit ihrer Symbolik auf einen traditionellen Bedeutungszusammenhang. Hohe rhythmische Dichte am Anfang, die dann kontinuierlich abnimmt in Form des Ausblendens rhythmischer Formen bis zum Ende des Mittelteils. Hier in Takt 43 spielen alle Instrumente in einem rhythmischen Unisono 24 Zwölftonsäulen. Aus Rhythmus und Phrasierung ergeben sich wieder zwölf Klanggruppen, als ob alle Parameter mit einem Schlag monolithisch gebündelt würden.
Takt 43 ist gleichzeitig Zentrum des Achsenteils. Als polarer Kontrast folgt diesem Takt eine Generalpause und dieser ein Takt, in dem sich in totaler Polyphonie zwölf Stimmen, jede in ihrer eigenen Zeit gefangen, überwuchern. Die Generalpause markiert als Moment der Leere und Spannung den Augenblick des lautlosen Identitätstauschs von Schmetterling und Mensch
Die Harmonik ist eingebunden in ein Bewußtsein, das europäisches Musikdenken reflektiert Die Horizontale, das Melodische orientiert sich dagegen ganz an typisch chinesischen Modellen. Tzeng baut seine rudimentären Melodien aus fragmentierten, pentatonischen Skalen zusammen Chromatische Nebentöne färben dieses Melos. Geräuschhafte Verfremdungen, Flageolett-Töne sowie die ständig wechselnde Rhythmik gelben dem Melos ein fast improvisatorisches Gepräge. Die zwölf Stimmen tragen Melodien vor, die ein zwölffaches Abbild eines einzigen, imäginären Modells zu sein scheinen. Die Unschärfe-Relation ist kennzeichnend für mehrstimmiges chinesisches Musizieren in traditioneller Musik wie zum Beispiel in der südchinesischen Nan-Kuan-Musik (3), die auch heute noch gepflegt wird. Selbst bei strophischem Bau eines Stücks wird ein melodischer Vorgang nie wörtlich wiederholt, sondern ständig variiert durch Hinzufügen von Verzierungen und Nebennoten. Jedes Instrument hat dabei durch seine eigene Spieltechnik bedingte Varianten, die den Vortrag beeinflussen. Gerade in der Nan-Kuan-Musik entsteht dadurch eine Subtilität der Gestaltung, die in ihrer intimen Kontem-plation sich durchaus mit den Gedichten eines Li-Po (4) oder den Tuschezeichnungen eines Fan-Kuan (5) vergleichen läßt Die ältesten Aufzeichnungen von Nan-Kuan reichen bis in die Sung-Zeit, einige sogar bis in die Tang-Zeit, das heißt bis ins 7. Jahrhundert zurück.
Zusammenfassend beschreibt der Komponist den formalen Prozeß: Der erste Teil (A) entfaltet sich durch sieben Prozeßstufen bis zum mittleren Abschnitt, der wiederum alle vorherigen Vorgänge enthält . Es ist, als ob der Mikrokosmos sich definiert gegen den Makrokosmos des ganzen Stücks. Die Wiederkehr (Abschnitt B) enthält die ursprünglich geplanten Prinzipien, aber ebenso "Krebsformen" und Montagen entweder von meistens identischen Segmenten oder von völlig neuen.
Tzeng Shing-Kwei geht es um eine "Verschmelzung zweier Kulturen, die verschiedenen Zeiten und Orten angehören", wenn er alte chinesische Philosophie in abendländischen Strukturalismus ummünzt. Die Begegnung und Durchdringung zweier Auren geschieht auf subtile und hintergründige Weise, im historischen und ästhetischen Ansatz weit ausholend, knapp und konzentriert in der Form. Die traditionelle chinesische Kunst leitet immer wieder ihr Selbstverständnis von ihrem Ver-hältnis zur Natur ab. Philosophie und Kunstdenken verschmelzen hier zu einer Einheit. Der Mensch empfindet sich als Teil einer kosmisch verankerten Natur. Der Chinese kennt nicht das europäische Gefühl des Geworfenseins in eine menschenfeindliche, bedrohliche Umwelt. Der hypertroph zugespitzte Blick auf eine denaturierte, katastrophisch deformierte Landschaft als Spiegel seiner selbst, wie beispielsweise in den Radierungen Hercules Seghers (6), ist ihm völlig fremd.

"Empty" lautet der Titel eines Trios für Flöte, Cello und Klavier aus dem Jahre 1984 des 1950 in Taiwan geborenen Komponisten
Wu Ting-Lien. Er meint damit nicht wüst, öde oder menschenleer, sondern ein Naturgefühl das von Weite und Grenzenlosigkeit, aber nicht von Verlorensein erfüllt ist. Die Maler der Sung- und der Ming-Zeit, Fan-Kuan und Kuo-Hsi, haben dieses spezifische Gefühl von "empty", chinesisch "hsü", künstlerisch eindringlich dargestellt. Mensch-Natur-Kontemplation ist eine archetypische Thementrilogie der chinesischen Gedankenwelt. Der Komponist Wu Ting-Lien wertet sein Trio als ein Schlüsselwerk in seiner Auseinandersetzung mit westlichem Musikdenken in Richtung auf eine eigene Musiksprache und Identität:
Das Stück war in Gedanken gegen meine bisherige westliche Musikerfahrung gerichtet. Man erwarte nicht Vergleichbares wie ein Thema oder eine Entwicklung im westlichen Sinn zu hören. Das Stück entstand 1984 nach einem Spaziergang am Meer in Lu-Gang in der Mitte der Westküste Taiwans. Die Landschaft am Meer, der Sonnenuntergang an der Küste, die offene und einsame Szenerie, Vogelschreie und ihr Echo ins Rauschen der Wellen gaben mir plötzlich ein tiefes Gefühl für die Qualitäten traditioneller chinesischer Ästhetik (aus einem Kommentar des Komponisten).
Die musikalischen Grundgesten, ihr Klang- und Tonmaterial entfalten sich in den ersten zehn Takten: Ein von Sekundreibungen geprägtes expressives Tonfeld zwischen Cello und Klavier wird von weitintervalligen Injektionen der Flöte (kleine Sept und kleine None) eingekerbt. Ein sforzato angeschlagener Tritonus-Quint-Akkord und dessen Variante, bestehend aus Quart plus kleiner Sext als hinzugefügte Klangschärfung, lassen den Tonraum durch Spreizen der Intervalle bis an die Peripherie (H1 und f4) aufbrechen und schleudern zweimal signalartig im dreifachen forte die chromatische Gestalt eines Vogelschreis (a-gis-g) heraus. Als Echo geräuschhaftes Obertongewisper in der Flöte und Flageolett-Glissandi im Cello. Das Verhältnis Geräusch-Schrei-Geräusch (Vorbereitung des Schreis, Schrei und sein Widerhall) entpuppt sich als das gestische Grundmotiv des Stücks. Im weiteren Verlauf entwickelt sich aus einem changierenden Sept-Non-Klang zwischen Flöte und Cello ein Obertongeräuschfeld.
Tonspuren und Klangsplitter sind in diesen Geräuschteppich, der an Lautstärke wie plötzlich aufkommender Wind zunimmt und wieder zerfasert, gleichsam wie "objects trouvés" eingesprengt. Das unvermittelte Aufkreischen des Vogelschrei-Motivs beendet den ersten Teil der Komposition abrupt.
Ich versuchte, aus dieser Musik die Melodie herauszulösen. Melodie bedeutete für mich in diesem Moment "Erfülltsein"-"shi". Durch quasi naturale gespielte Klänge deutete ich den Inhalt "Erfüllt" und "Bewegt" an . Durch verschwimmende, unklare Klänge, wie Obertöne und Blasgeräusche der Flöte und Flageolett- und sul-ponticeIlo-Klänge des Cellos im piano und die sehr hohen Tönen im Klavier, die auch noch unregelmäßig wiederholt werden, wollte ich den Gestus von "emptyness" und Stille, von "hsü", um Ausdruck bringen. Auch Pausen wären in diesem Zusammenhang als Symbol von "hsü" zu deuten. All diese verschiedenen Klangmomente sind entweder verschieden zusammengesetzt, in einer Reihe gebildet oder gar verwandelt. So entstand für mich die geistige Szenerie einer einsamen, aber dennoch bewegten Klanglandschaft. (aus einem Kommentar des Komponisten)
Das Trio läßt eine deutliche Dreiteilung erkennen. Der erste Teil bleibt im wesentlichen der Zone des Vagen und der Andeutung verhaftet. Das einzig Konkrete ist der scharf skandierte Vogelschrei.
Im zweiten Teil kippen die Verhältnisse um. Das Konkrete, der Ordinario-Klang, durchdringt den ganzen klanglichen Habitus, verdrängt und überlagert die Welt des Geräuschhaften. Im Klavier ist das eine wellenartige Klangfigur. Sie besteht aus einem Zweiklang plus vier Einzeltönen. die rhythmisch in eine Sechzehntelsextole eingebettet sind. Die erklingenden Akkorde sind jene eingangs erwähnten Tritonus-Quint- bzw. Quart/kleine-Sext-Klänge. Der Eindruck des Wellenartigen entsteht aus abwärtsstürzenden, dynamisch anschwellenden Sequenzfolgen. Die Flöte singt in einer weitgespannten Melodik: In Gegenbewegung zum Klavier, aber harmonisch mit diesem verzahnt. Nur das Violoncello verharrt noch innerhalb der alten Geräuschsphäre mit collegno battuto gehämmerten Quart-Glissandi und schweifenden, pfeifenden Flageoletts. Den gestischen Zusammenhalt schafft die musikalische Figur der Wellenbewegung.
Nach etwa 25 Sekunden reißt der neue Gestus plötzlich ab. Eine Reminiszenz der Klangtriade Geräusch-Vogelschrei-Geräusch schiebt sich wie ein musikalisches Emblem dazwischen. Erst dann setzt sich der Gestus des Konkreten und der Bewegung endgültig durch, auch im Violoncello. Es entwickeln sich neue Varianten der Wellenfigur, schaukeln sich auf zu einer Art "Sturm". Ein schriller Vogelpiff in der Flöte signalisiert das Ende des Mittelteils. Die heftige Wellenbewegung schwingt sich wieder langsam mit Flageolett-Arpeggien in den Zustand des klanglich Archaischen und des Naturhaften ein.
Ein kalter Tritonus-Quint-Klang statisch wie erstarrte Lava leitet den dritten und letzten Formteil ein. Vogelschrei-Motiv und geräuschhaftes Aushauchen in der Flöte ergänzen die Triade "Stille-Bewegtheit-Stille": Das gestische Konzentrat, in dem das ganze Stück enthalten ist, eine Art Gundformel, nun kalligraphisch, improvisatorisch ausschwingend; ein Hinundherpendeln zwischen dem Zufälligen, Flüchtigen und verschiedenen Stadien klanglicher Verfestigung.
Form und Zeit entleeren sich. Die schmale Linie des Horizonts löst sich im Atmosphärischen auf. "Empty" wieder als Gefühl des Verschmelzens, Teilwerdens. Das Naturhafte, die sublimierte Tonwelt einer Küstenlandschaft breitet ihren Klangteppich äolsharfengleich aus: Flageolett-Glissandi, diatonisch gefärbt in der Flöte, chromatisch im Cello und pentatonisch flimmernd als Arpeggien im äußersten Diskant des Klaviers; eingestreut wie Strandgut: Blasgeräusche, Pfiffe, ein krächzender Klang hinter dem Steg gespielt, der allgegenwärtige Vogelschrei. Eine zarte Wellenbewegung, wie hingehaucht vom Klangpinsel.
Wu Ting-Lien lebt seit 1987 wieder in Taiwan. Davor hatte er mehrere Jahre in den USA, in Illinois und Los Angeles Komposition studiert. Er hat verschiedene Preise und Stipendien erhalten. Er hatte zunächst eine Stelle als Professor für Musiktheorie an der Soochou-Universität in Taipei inne. Bis heute unterrichtet er Komposition und Theorie an der National Chiao Tung University in Hsinchu.
Mit dem Trio "Empty" beschritt er nach eigener Aussage ganz bewußt einen Weg in Richtung einer konstruktiven Auseinandersetzung mit tradierten chinesischen Werten. Das Stück ist der Beginn einer Suche nach einem eigenen chinesischen Weg. Die Textur ist einfach angelegt. Der Sinnzusammenhang wird durch wenige, aber sehr charakteristische Klanggesten und ein sparsames Tonmaterial gestiftet. Die Betonung liegt auf Schlichtheit. "Empty": Entleerung, Reinigung, um zu einem tieferen Kern vordringen zu können. In späteren Stücken, wie der Kammermusik "Echoes of May" oder dem Orchesterstück "After Ripples, a Serene Lake" versucht Wu Ting-Lien, einen jeweils neuen, spezifischen Zugriff auf die Tradition zu finden.


Fußnoten:

1.Die Namensschreibung folgt hier dem chinesischen Gebrauch. erst den Familiennamen und dann die mit einem Bindestrich verbundenen Vornamen anzuführen.
2.Die Hoffnung Chou Wen-Chous hat sich nicht ganz erfüllt. Die eigentlich innovativen Schübe kommen in der Zwischenzeit (seit Anfang der Neunzigerjahre) nicht aus Taiwan, sondern vom Festland von Komponisten wie Guo Wenjing oder Chen Qigang und dem in New York lebenden Tan Dun. In Taiwan hat nach der Etablierung auch der jüngeren Komponisten in den Institutionen der künstlerische Diskurs spürbar abgenommen.
3.Nan-Kuan-Musik zerfällt in eine südliche und eine nördliche Schule von Traditionnalisten wird der König Lung-Chung (Sui-Zeit. 6. Jahrhundert) gern als geistiger Stammvater von Nan-Kuan angesehen. Neuere Forschungen belegen die Aufnahme dieser Musik in das kaiserliche Hofzeremoniell unter dem Kaiser Kang-Hsi (Chin-Dynastie), und zwar zu dessen 60. Geburtstag 1723. (Chinese Folk Arts Annual, Taipei 1984)
4.Li-Po oder auch Li-Tai-Bo, 701-762, kann man etwa mit den abendländischen Minnesängern vergleichen. Er zog mit Schwert und Zither durchs Land. Hierzulande bekannt sind Bethges Nachdichtungen in dem Band "Die chinesische Flöte", u.a. vertont von Gustav Mahler. Bedeutend auch die Nachdichtungen von Günther Eich (Lyrik des Ostens: China, München [dtv] 1962).
5.Fan-Kuan, bedeutender Landschaftsmaler der Sung-Periode (starb um 1030). Er bewarb sich nie um ein Amt im Staatsdienst. Darum existieren über ihn keinerlei offizielle Aufzeichnungen. Nach seiner eigenen Aussage war die Natur sein einziger Lehrmeister (vgl. Kindlers Malerei Lexikon Bd.4)
6.Hercules Seghers (1590-1639). holländischer Maler und Radierer. Ungewöhnlich für die Zeit sind seine kühnen Experimente auf dem Gebiet der Radiertechnik. Seine Landschaften sind bizarre Einöden, gezeichnet von Kata-strophen. Anhaltspunkte für seine Biographie sind großenteils Schuldscheine. Im Rausch stürzte er eine Treppe hinab und starb (vgl. Wilhelm Fraenger: Die Radierungen des Hercules Seghers, 1922).


in: MusikTexte 28/29, Köln 1989
(revidiert 1999) auch als Feature im Deutschlandfunk Info:
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